* 28 *

Jenna, Septimus, Nicko, Wolfsjunge und Stanley nahmen den Dammweg, der aus Port heraus in Richtung Marram-Marschen führte. Jenna ging voraus, Donner trottete hinter ihr her. Er schüttelte seine Mähne und schnaubte in der kühlen Morgenluft, froh, dass er nicht mehr in dem stinkenden Stall hinter dem Puppenhaus stand, in dem er die Nacht verbracht hatte.
Jenna hatte darauf bestanden, noch einmal zurückzugehen und ihn zu holen. Sie hatte befürchtet, dass Schwester Meredith versucht sein könnte, das Pferd an den Fleischpastetenladen unten am Hafen zu verkaufen. Also war sie, als sie das Ende der Seilerbahn erreicht hatten und noch immer keine Hexe aus dem Haus aufgetaucht war, auf dem schmalen Pfad hinter den Häusern zum Stall geschlichen und hatte Donner geholt.
Der Dammweg verlief auf der Hügelkette, die an die Wiesen am Stadtrand von Port grenzte. Als sie durch den Morgendunst gingen, sah Jenna das verblichene Zirkuszelt und sie konnte das Gras riechen, das die Zuschauer am Vorabend zertrampelt hatten. Es war ein beschaulicher, friedlicher Anblick, aber Jenna war nervös. Die Brandwunde am Arm schmerzte und erinnerte sie unablässig daran, dass sie jetzt für Simon markiert war. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. So auch jetzt, als sie ein merkwürdiges Rasseln vernahm und aus dem Augenwinkel ein kleines schwarzes Ding auf sich zufliegen sah. In panischer Angst klammerte sie sich an Septimus.
»Au!«, rief Septimus. »Was soll das, Jenna? Was ist denn?« Jenna ging hinter ihm in Deckung. Das Ding flog direkt auf sie zu.
»Iiih ... geh weg! Geh weg!«, schrie sie und fegte verzweifelt ein großes Insekt von ihrer Schulter.
Die Jungen knieten sich hin und beguckten sich den Käfer, der auf dem Rücken im Staub lag, mit den Beinen strampelte und ein schwaches Summen von sich gab.
»Und ich dachte, er sei tot«, sagte Septimus und stupste den Käfer mit dem Finger.
»Wie er wohl hierher kommt?«, wunderte sich Nicko und schüttelte den Kopf.
Wolfsjunge betrachtete den Käfer abschätzig. Besonders genießbar sah er nicht aus. Viel zu hart, und zu scharfe Kanten. Und wahrscheinlich hatte er auch noch einen tückischen Stachel.
Jenna spähte ihnen über die Schultern. »Was ist es?«, fragte sie.
»Dein Panzerkäfer«, antwortete Septimus.
»Nein!« Jenna sank auf die Knie, hob den Käfer ganz behutsam auf und bettete ihn in ihre Hand. Sie wischte ihm, so gut es ging, den Staub ab, und Augenblicke später beobachtete ein fasziniertes Publikum, wie der Käfer aufstand und sich, noch etwas wacklig auf den Beinen, die Flügel putzte, brummte und an sich herumfuhrwerkte, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Und dann, ganz plötzlich, schlug er triumphierend mit den Flügeln gegen seinen gepanzerten grünen Rumpf, schraubte sich in die Luft und landete auf seinem rechtmäßigen Platz, nämlich auf Jennas Schulter – so wie er es über ein Jahr zuvor schon getan hatte, als er in Tante Zeldas Hütte erschaffen worden war. Jenna schöpfte wieder Mut. Jetzt hatte sie etwas, womit sie sich verteidigen konnte, wenn Simon sie holen wollte.
Das große Pferd, auf dessen Sattel eine Ratte saß, und die vier Gestalten neben ihm folgten dem Dammweg in einem gemächlichen, aber gleichmäßigen Tempo. Sie hatten die Wiesen, die Port umgaben, hinter sich gelassen und die Schilffelder erreicht, die den Bewohnern der Stadt den Rohstoff für Hausdächer, Körbe, Fußbodenbeläge und viele andere nützliche Dinge lieferten. Als die Morgensonne höher stieg, lösten sich die letzten Dunstschwaden auf, und man sah fast nur Schilffelder, so weit das Auge reichte. Hinter dem Schilf lagen die Marram-Marschen, die noch in dichten Nebel gehüllt waren.
Stanley hielt sich, wie er es ausgedrückt hätte, bedeckt. Seine Laune war heute Morgen nicht die beste, denn er hatte eben die Abzweigung wiedererkannt, die zu Mad Jacks Schuppen führte, wo er im vorigen Jahr als Gefangener in einem Rattenkäfig die sechs schlimmsten Wochen seines Lebens zugebracht hatte. Die Flucht war ihm nur geglückt, weil er so lange gehungert hatte, bis er dünn genug war, um sich durch die Gitterstäbe zu zwängen.
Der Vormittag war bereits vorgerückt, als die Schilffelder lichter wurden und Stanley der sumpfige Geruch in die Nase stieg, der von den Marram-Marschen herüberwehte. Jetzt wurde ihm wieder wohler, denn er wusste, dass Mad Jack weit weg war. Bald ging der Dammweg in einen morastigen Pfad über, und die Gruppe machte Halt.
Ihre Augen mit der Hand vor der grellen Sonne schützend, spähte Jenna in die Marschen. Ihre Zuversicht schwand wieder. Sie hatte keine Ahnung, wie man zu Tante Zeldas Hütte kam. Beim letzten Mal, als sie zusammen mit Nicko hier war, hatte das Marschland unter Eis und Schnee gelegen und ganz anders ausgesehen.
Septimus trat zu ihr. »Komisch, ich dachte, der Boggart würde uns erwarten. Tante Zelda muss doch wissen, dass wir kommen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher, Sep«, erwiderte Jenna. »Sie hört nicht mehr so gut, und das Feinlauschen strengt sie an. Ich werde Stanley losschicken, damit sie weiß, wo wir sind.«
»Verzeihung, habe ich richtig gehört?«, fragte die Ratte ungläubig.
»Ja, Stanley, Sie haben richtig gehört«, antwortete Jenna. »Ich möchte, dass Sie in die Hüterhütte gehen und Tante Zelda sagen, dass wir hier sind.«
»Verzeihung, Eure Majestät, aber wie ich schon sagte, ich setze keine Pfote mehr in die Marschen ...«
»Wenn ich Sie bitte, in die Marschen zu gehen, dann gehen Sie in die Marschen, Stanley. Verstanden?«
»Äh ...« Stanley hatte es die Sprache verschlagen.
»Und wenn Sie nicht tun, was ich sage, werde ich dafür sorgen, dass Sie aus dem Geheimdienst entlassen werden.«
»Aber...«
»Ist das klar?«
Stanley traute seinen Ohren nicht. Septimus und Nicko ging es nicht anders. So bestimmt hatten sie Jenna noch nie reden gehört.
»Ob das klar ist, Stanley?«
»Sonnenklar. Klar wie Kloßbrühe.« Stanley blickte traurig in die Marram-Marschen. Mit Jenna, so dachte er mit widerwilliger Bewunderung, war nicht gut Kirschen essen. Sie würde als Königin ein strengeres Regiment führen als ihre Mutter.
»Dann machen Sie sich gleich auf den Weg«, sagte Jenna. »Bestellen Sie Tante Zelda, dass sie den Boggart mit einem Kanu zum Ufer auf der Porter Seite schicken soll. Und sputen Sie sich.«
Alle sahen zu, wie Stanley ein Stück den morastigen Weg entlanglief und dann mit einem weiten Satz in dem hohen Riedgras verschwand, das an den Marschrändern wuchs.
»Hoffentlich stößt ihm nichts zu«, sagte Jenna, indem sie ihre Augen beschattete und in die Richtung blickte, in die Stanley verschwunden war. Es war ihr nicht leicht gefallen, Stanley zu drohen, aber er hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Seit Spürnase sie markiert hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis Simon sie finden würde. Sie konnte es nicht erwarten, in die sichere Hüterhütte zu kommen.
»Er ist eine gute Ratte«, sagte Septimus. »Er ist bald mit dem Boggart zurück, du wirst sehen.«
Sie setzten sich neben den Dammweg. Donner rupfte zufrieden Gras, und Jenna reichte die Wasserflasche herum, die sie unterwegs an der Porter Quelle gefüllt hatte. Nicko legte sich hin und blickte in den Himmel, glücklich über einen Vormittag, an dem er wenig zu tun hatte. Wolfsjunge war unruhig. Die Hände taten ihm weh, und nach einer Weile erhob er sich und ging auf dem Weg auf und ab.
Auch Jenna und Septimus waren unruhig. Unablässig suchten sie mit den Augen die Marschen und Schilffelder nach etwas Verdächtigem ab. Von Zeit zu Zeit fuhr eine Windböe rauschend durchs Schilf, eine Wassermaus tauchte mit leisem Platschen ins Wasser oder ein Vogel rief klagend nach seinem Partner – und jedes Mal zuckten die beiden zusammen. Doch als der Mittag nahte und die Luft wärmer und schwül wurde, legte sich der Wind und jedes Geräusch verstummte. Jenna und Septimus wurden schläfrig, und langsam fielen ihnen die Augen zu. Nicko war bereits eingeschlafen. Selbst Wolfsjunge hörte auf, hin und her zu gehen, legte sich wieder hin und kühlte seine schmerzenden Hände im Gras.
Über ihnen brannte die weiße Sonne von einem wolkenlosen Himmel – und weit entfernt, jenseits der Marram-Marschen, tauchte ein dunkler Punkt am Horizont auf.